Jacob träumt nicht mehr (Leseprobe)

Es ist drückend schwül, ein fetter Sumpfgrashüpfer springt mir zum dritten Mal gegen die Brust und auf dem knorrigen Ast über mir sitzt ein Raabe und macht sich über das Wenige lustig, was ich bisher über das Leben zu wissen gemeint habe. Andere machen Weltreisen, um sich selbst zu finden, meditieren oder schreiben einen Roman, krächzt er, du hingegen bist idiotisch genug, dich in einem mickrigen Waldstück zu verlaufen und bis zum Bauchnabel in einem stinkenden Moor  einzusinken.

Immerhin freuen sich die Stechmücken über meine Anwesenheit. Im Nullkommanichts hat sich knapp über meinem Kopf ein ganzer Schwarm eingefunden. So zielstrebig wie er mich angesteuert hat, könnte man meinen, das wäre alles von langer Hand geplant. Schon sticht es mich am linken Arm, dann am rechten; wie schön, ein Pärchen. Ich schlage um mich und beschmiere mich weiter mit Matsch, egal, die Klamotten sind ohnehin ruiniert. Es folgt ein erneuter, mittlerweile recht verzweifelter Anlauf, mich zu befreien, ich versuche, wie ein Delfin aus dem Wasser zu springen. Fehlt nur leider die Schwanzflosse.

Mir rinnt der Schweiß von der Stirn, bauchnabelabwärts beginne ich dagegen zu frieren. Ich verfluche die Sommerhitze, das Moor und die Mücken. Verfluche jeden Baum, jeden Vogel und jeden Fisch. Verfluche die Banker, die Anzugträger, die Marketingmenschen. Aber vor allem verfluche ich: mich.

Hätte ich doch meinen Agenturjob behalten, dann säße ich jetzt in einem klimatisierten Besprechungsraum, würde ein nichtssagendes Gespräch führen und müsste mir darüber hinaus keine Gedanken machen. In absehbarer Zeit hätte man mich ins Management befördert, mir einen netten Bonus ausgezahlt, und ich hätte mir endlich eine Brille mit transparentem Rahmen zugelegt. Hätte bei Präsentationen am Tischende Platz genommen und einem anderen Jungspund dabei zugeschaut, wie er an meiner Stelle Konzepte und Budgets verteidigt. Hätte noch mehr Follower gesammelt, noch mehr Ansehen genossen. Geheiratet, Kinder gezeugt, eine Eigentumswohnung gekauft. Oder ein Haus gebaut. Oder was man halt so macht als junger, privilegierter weißer Mann.

Außerdem: Habe ich sie nicht auch geliebt, meine Arbeit? Habe ich nicht immer zu den Gewinnern gehört, immer alles richtig gemacht? Und wenn man es ganz objektiv betrachtet: Hab ich es als Endzwanziger karrieretechnisch nicht schon viel weiter gebracht als andere mit Ende dreißig? Hat die Arbeitswoche halt 70 Stunden, ein bisschen Stress – na und? Trägt das eigene Handeln nicht zum Weltfrieden bei – wen kümmert das? Was wollte ich eigentlich? Gibt doch Schlimmeres. Zum Beispiel sich auf der Suche nach – ja, nach was eigentlich? – im Wald zu verlaufen und im Moor zu versinken.

„Glaub an deine Träume“, sagen sie, da sind sich doch alle einig. Aber was, wenn man an sie glaubt, und am Ende bleibt nichts außer Hirngespinste? Bei der Karriereleiter weiß man wenigstens, was oben auf einen wartet. Auf den gesellschaftlichen Status oder den Kontostand, darauf kann man sich verlassen. Aber auf die Träume?

Von wegen Waldgeister, von wegen Megalithen – alles Märchen. An die glauben vielleicht Kinder, Nachwuchsführungskräfte mit high Potential und großer Zukunft sicher nicht. Ich bin in eine Falle getappt. Zur Strafe stecke ich jetzt hier fest und kann nichts anderes tun, als mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie es nur so weit kommen konnte.

***

Keine sechs Monate sind vergangen, seitdem mein Diensthandy klingelte und der Name unseres Agenturchefs, dem CEO, auf dem Bildschirm erschien. Dennoch kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Damals saß ich gerade an meinem höhenverstellbaren Designer-Schreibtisch, die Noise-Cancelling-Kopfhörer auf den Ohren und arbeitete vor unserem Daily Stand-up-Meeting noch meine To-do-Liste ab, die ich wie immer am Vorabend per E-Mail an mich selbst geschickt hatte.
Neben meiner Tastatur stand ein leerer Coffee-to-go-Becher, das Käsebrötchen vom Vortag lag, immer noch in Papier eingewickelt, daneben. Draußen peitschte der Wind den Regen gegen die Fenster, das neue Jahr hatte bisher nur graue Tage gebracht. Trotzdem ließ ich mein Hallo wie vier Wochen Sonnenschein klingen, als ich nach dem zweiten Klingeln ans Handy ging.

Wenn der CEO mich anrief, was selten vorkam, fragte er mich zunächst nach meinem Befinden oder er bot mir an, mich irgendwo zu unterstützen, bevor er zu seinem eigentlichen Anliegen kam – diesmal hielt er sich nicht lange mit Vorgeplänkel auf. „Ich nehme an, du liest das monatliche
Management-Reporting im Intranet, dann weißt du ja, dass wir schon lange bei den Financial Services aufrüsten wollen. Da muss mehr Power in die Sales Pipe. Seit Monaten bin ich an unseren Kontakten dran – jetzt gerade die E-Mail von der Bank, Einladung zum Pitch, soll ums Smartbanking gehen. In vier Wochen ist Präsentation.“

Der CEO sprach in diesem ihm eigenen Ton, der wie so oft übergangslos von flauschig sanft zu rasiermesserscharf wechselte. „Ich sehe das bei dir im Team. Digital Transformation, eine App für Millennials, genau eure Target
Group. Eine Chance, die ihr neben dem laufenden Projektgeschäft unbedingt nutzen solltet. Könnt ihr nur dran wachsen. Ich wünsche mir da dein Commitment. Also, wenn du euch das zutraust, schick ich dir das Briefing asap rüber.“

Hätte ich abgelehnt und erklärt, dass wir mit der Digitalisierung der Kundenkarte für eine Supermarktkette genug zu tun haben, hätte er vermutlich gehadert, mir aber auch nichts vorwerfen können. Hätte ich geantwortet, dass ich kurz davor war, mit Stella meinen ersten Urlaub seit gut einem Jahr zu buchen – auch gut. Ich wäre niemals hier im Moor gelandet. „Klar“, sagte ich stattdessen mit falscher Lässigkeit, ohne weiter groß darüber nachzudenken, „schick rüber“.

 


„Jacob träumt nicht mehr“, Clemens Bruno Gatzmaga, 04. Februar 2021, Hardcover, 160 Seiten, Karl Rauch Verlag GmbH & Co. KG. ISBN: 978-3-7920-0265-0