Ingeborg Bachmann Wettbewerb – Schulze

Schulze

Die ganze Geschichte beginnt also damit, dass Herr Schulze am Morgen hochschreckt und bemerkt, dass er in die Unterhose uriniert hat; freilich nur wenig, einen Tropfen vielleicht, höchstens zwei, mehr jedenfalls nicht, kaum spürbar, aber doch. Als hätte er nicht abgeschüttelt, denkt er, dabei schüttelt er doch immer ab. Immer dreimal, um genau zu sein, ruckartig von oben nach unten, um die Fliehkräfte zu aktivieren, plitsch macht es, manchmal, selten plitschplatsch, niemals plitschplatschplitsch. Macht er nur, um wirklich einhundert Prozent sicher zu gehen, das dritte Schütteln, dient nur der Sicherheit.

Schiefgehen kann eigentlich nichts, auf die Technik kann er sich seit Jahren, Jahrzehnten verlassen. Und überhaupt, wenn er vor dem Schlafengehen nicht abgeschüttelt hätte, obwohl er doch immer abschüttelt, dann wäre der Urinrest bis zum Morgen doch längst im Stoff verschwunden. Mal abgesehen davon, dass er ihm oder seiner Frau auf dem Weg ins Bett auffallen hätte müssen – das fällt doch auf, so eine Verfärbung in der Unterhose, Elke jedenfalls fällt sowas auf. Freilich, gesagt hätte sie nichts, nur geschaut, seine Aufmerksamkeit mit dem Blick geführt, keine große Sache, nicht der Rede wert. Schnell eine neue angezogen, Gute Nacht, Schatz, Lichtausknipsen, auf die Seite drehen.

Nein, so kann es nicht gewesen sein, so war es nicht, denkt Herr Schulze, vielmehr muss ihm gerade eben, als er noch schlief, etwas entwischt sein, aus Versehen oder auch als Reaktion auf das Traumgeschehen; auf den Traum, ja welchen eigentlich, er kann sich nicht erinnern, nur das Gefühl ist geblieben; quasi übergegangen in ihn, vom Traumgefühl zum Bauchgefühl geworden. Behagt ihm gar nicht, bringt alles durcheinander, dieses Bauchgefühl, gerade heute, wo alles in geregelten Bahnen laufen muss, zu laufen hat. Besser verdrängen, die Gefühle, ins Tun kommen.

Energisch also steht er auf, wobei, nicht zu energisch natürlich – nicht, dass Elke etwas merkt, aufwacht und ihre Fragen stellt, Fragen, mit denen sie ihn führt wie mit ihren Blicken, damit er selbst die Antworten entdeckt, wenn auch nur scheinbar, schwingen sie doch schon mit, die Antworten, in ihren Fragen. Gott, was wäre er ohne sie, was wäre er ohne Elke, die ihn selbst die Antworten auf seine Fragen finden lässt.

Wenn er das heute hinter sich gebracht hat, muss er ihr endlich mal wieder Blumen kaufen, das nimmt er sich vor, einen richtig schönen Strauß, Geld darf da keine Rolle spielen, denn wie soll man den bemessen, ihren Beitrag, der passt in keine Excel. Das ist ja gerade das Problem, deshalb neigt Schulze ja dazu, ihn zu übersehen, den Beitrag, weil er eben nicht so leicht bemessen werden kann. Heute nicht, heute wird er einen Blumenstrauß kaufen, einen riesigen, das nimmt er sich vor, nein, mehr noch, das schwört er sich, weil er ja weiß, dass es nicht reicht, sich das nur vorzunehmen, etwas kommt immer dazwischen, die Arbeit nämlich, was sonst, da kommt allein der Schwur gegen an, wenn überhaupt.

„Alles in Ordnung?“, würde Elke also fragen, wäre er zu energisch aufgestanden, es sei ja noch nicht einmal sechs, denn wäre es sechs, dann hätte der Wecker geklingelt. Hat er aber nicht. Besser so, denkt Schulze. Zwar braucht er sie, das kann er mittlerweile zugeben, macht ihm nichts mehr aus – zuzugeben, dass er Elkes Fürsorge braucht – vor allem, wenn viel auf dem Spiel steht, er unter Druck gerät; so wie heute, dem Tag, der nicht wie jeder andere ist, weil er vor die Presse treten muss, wegen des Plans, der zu scheitern droht. Aber jetzt gerade, da will er alleine sein mit seinem Malheur, alleine prüfen, in wieweit es sickerte, in seine Unterhose.

Doch nichts. Weder lässt sich etwas erfühlen noch erspähen im grellen Badezimmerlicht, und ebenso verdächtig – der Geruch, viel zu neu, als hätte man den Stoff gerade erst aus der Plastikverpackung gerissen. Wie kann das sein, fragt sich Schulze, nackt dastehend, das Beweisstück unter der Nase, er wechselt die Unterwäsche doch immer erst am Morgen, nach dem Duschen. Ist nun also der Tropfen – durch die Körperwärme eventuell – getrocknet auf dem Weg ins Bad? Ja, das wäre eine Möglichkeit, denkt er, der Flur zieht sich, allein, es ist unwahrscheinlich.

Wahrscheinlicher ist doch, mit Verlaub, sagt Schulze laut, mit Verlaub, breitet seine Arme vor dem Spiegel aus, in die Kameras schauend, die Menschen direkt ansprechend, aufrecht, ja, sehr gut, aufrecht und den Blick geradeaus, bloß nicht fallen lassen, den Blick, bloß keine Unsicherheit aussenden – wahrscheinlicher ist doch, mit Verlaub, dass nie ein Tropfen da war, in der Unterhose, dass es sich nur um Einbildung handelte.

Bloß gut, dass er das aufklären konnte, lückenlos, keine weiteren Fragen, er ist erleichtert, scheint doch mit dem Urin in seiner Unterhose auch der Traumrest – was auch immer er geträumt hat, er kann sich ja nicht erinnern –, jedenfalls scheint er verschwunden zu sein, der Rest, der Urin ja sowieso und mit beidem auch das Bauchgefühl, das ihn so plagte.

***

In die Kopfhaut rein muss das Shampoo, die Finger kreisen, massieren, pressen, bis es schmerzt, damit es auch eindringt, das Koffein in die Poren, und die Haarwurzeln aktiviert – oder welche Vorgänge es da auch immer in Gang setzt; mir egal, denkt Schulze, Hauptsache es funktioniert, Hauptsache es aktiviert irgendwas. Dann schnäuzt er in die Hände, und schaut dem Rotz zu, wie er sich seinen Weg bahnt und im Abfluss kleben bleibt, bis er mit dem Fuß eine kleine Welle hinterherschiebt, die alles wegspült. Freut ihn, wie er Herr über das Wasser ist, hat er im Griff, die Elemente, nicht er gehorcht dem Wasser, das Wasser gehorcht ihm.

Ja, der Morgen, der so unangenehm begann, mit dem Traum, aus dem er hochschreckte, und der Pisse in seiner Unterhose, er nimmt nun, davon versucht sich Schulze zu überzeugen, eine positive Wendung. Es bleibt freilich bei dem Versuch, ganz mag er selbst noch nicht daran glauben, irgendwas sträubt sich in ihm, eine Erinnerung vermutlich. Er wischt sie weg, als könnte er sie wegwischen, von der Festplatte löschen, mit der Hand durch die Luft. Alles wird gut, wie Elke immer sagt, alles wird gut, man muss nur vertrauen auf die Dinge, sie sich entwickeln lassen, dann wird das schon, erzwingen kann man nichts, sagt Elke immer, das kommt von selbst, wenn man nur vertraut und die Unsicherheit aushält.

„Ohrfeigengesicht“, hat die Schmidt-Rimbach zu den Kollegen gesagt, die Erinnerung, die er weggewischt hat, nein, wegwischen wollte, mit der Hand durch die Luft, sie läuft vor ihm ab – kann er noch so druckvoll, fast gewaltsam, Zähne putzen, gibt nur die Bürste nach, die Erinnerung aber nicht. „Das ist doch nicht seine Schuld“, sagt die Schmidt-Rimbach, „dass er ein Ohrfeigengesicht hat.“ Konnte er hören im Vorbeigehen, sie weiß auch, dass er das hören konnte, dabei wollte sie das gar nicht, erschrocken sah sie drein, als sie ihn bemerkte.

Das ist das Schlimmste, findet Schulze, dass er die Schmidt-Rimbach nicht mal hassen kann. Ist quasi halb so alt wie er, spricht Englisch, das tatsächlich nach Englisch klingt, war in London, in Paris, keine Ahnung, wo noch überall, überall halt. Der Lebenslauf ungeschönt, weil schön genug – und dann auch das noch: dieses scheiß Mitleid in ihrem Gesicht. Eigentlich gehörte sie vernichtet, denkt er, wie die anderen vor ihr, doch er denkt es nicht mit der früheren Genugtuung.

Schulze steht vor dem Badezimmerspiegel und verpasst sich eine Ohrfeige. Der Abdruck, der zurückbleibt, der blieb auch schon zu Schulzeiten zurück. Die anderen Jungs, daran kann er sich noch erinnern, die haben sich immer einen Spaß daraus gemacht, Buchstaben auf seiner Stirn zu prägen, mit ihren Fingern, Weiß auf Rot.

Ist das gemeint – mit Ohrfeigengesicht, dass sie sichtbar bleibt, die Hand, als Verfärbung nach dem Schlag? Wie muss ein Gesicht beschaffen sein, dass es Menschen danach verlangt, es zu ohrfeigen? Hat mit seinen Wangen zu tun, glaubt Schulze, die nicht mehr straff sind, eigentlich, wenn wir mal ehrlich sind, niemals straff waren, über die Kieferknochen hängen und hingen. Und natürlich mit seiner Frisur, der Leerstelle.

Schulze sieht in den Spiegel, sieht nur Durchschnitt.

Jetzt kommt wieder so ein Moment, das spürt er an dem Stechen in der Brust, jetzt braucht er Elke, ihre Nähe, das kann er ruhig zugeben, kein Problem, dass er einen anderen Menschen braucht, das Schauen, das Fragen, das Umsorgen, was wäre er ohne Elke. Doch im Bett liegt sie nicht mehr. Wie kann das sein, fragt sich Schulze. Er ist doch extra sanft aufgestanden, damit sie nicht aufwacht, und wenn sie nicht aufgewacht ist, wie kann sie dann das Bett verlassen haben? „Elke?“, ruft er, und als er seine Stimme hört, wie dünn sie klingt, wie flehend, da wird ihm ganz anders. Blumen hätte er kaufen sollen, er hatte es sich doch vorgenommen, schwören sollen hätte er es. Weil, wenn Elke nicht da ist, wer soll ihm dann Halt geben, wenn es ihm in der Brust sticht?

Nach sieben ist es bereits, verdammt, denkt Schulze, der Chauffeur wird schon unten stehen, am Mercedes lehnen, die Marlboro rauchen, von denen er ihm immer eine anbietet. Diesmal wird er eine nehmen, gerne, wird er sagen, ja, das wird er, auch wenn er letztes Jahr endlich mit dem Rauchen aufgehört hat – weshalb er normalerweise ablehnt, nur heute nicht, an so einem Tag, da wird man doch wohl mal eine Ausnahme machen dürfen.

Wobei, was, wenn Elke das sieht, ihn sieht im Fernsehen, wie er sich mit ausgebreiteten Armen rechtfertigt, entschlossen und wortgewandt wie immer, so dass es nicht nach Rechtfertigung klingt; denn wer ist er, dass er sich vor der Presse rechtfertigen muss, auf gar keinen Fall, haltlos sind die Vorwürfe, alle vollkommen haltlos, das verbittet er sich, solche Vorwürfe, das kann ja wohl nicht angehen, dass man seinen Ruf so durch den Dreck zieht, ein Angriff nach vorne wird das.

Aber dieser gelbe Zeigefinger – durch das Halten der Zigarette erneut gelb geworden, obwohl er doch schon letztes Jahr mit dem Rauchen aufgehört hat – könnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Denn, das fällt doch auf, Elke jedenfalls fällt sowas auf. Dann wird er den Blick nicht mehr geradeaus richten, weil er ihrem Blick folgt, wie er am Zeigefinger hängen bleibt, und dann wird er vielleicht nach unten schauen und das darf er nicht, auf keinen Fall Unsicherheit zeigen, die muss er aushalten, die Unsicherheit, alles kommt von selbst, wenn man nur darauf vertraut.

Also, sagt sich Schulze, Schluss jetzt mit diesen Gedanken, Schluss mit den Träumen, Schluss mit den Erinnerungen – verdrängen, ins Tun kommen, schließlich muss er ihn noch anziehen, den Lieblingsanzug, den er vor sich aufs Bett gelegt hat, Hemden und Krawatten daneben, auswählen, welche Kombination es sein soll. Die Gestreifte, ja, die hat ihm letztes Mal auch schon aus der Patsche geholfen, bei dieser Sache mit der Aktivistin, genau, dazu das Hemd, das himmelblaue, an der Kombination kann er sich aufrichten, muss er sich aufrichten, woran denn sonst, wenn Elke nicht mehr da ist.

Die Kinder sind ja sowieso nicht mehr da.

***

„Gerne“, sagt Schulze. Der Chauffeur schnippst gekonnt gegen die Packung, wartet, bis er eine rausgefriemelt hat, schiebt die Marlboros zurück in die Innentasche des Sakkos, nickt vertraulich und hält ihm die Tür auf. Schulze ausgebreitet auf dem Ledersitz, grinst, pustet den Rauch in Richtung Spalt der verdunkelten Fensterscheiben.

Warum auch nicht? Weil, die können ihn alle mal, kreuzweise nämlich. Ohne ihn stünde das Unternehmen wo? Nicht da, wo es jetzt steht, jedenfalls. Können auch die Vorwürfe nichts dran ändern, er wird den Plan durchziehen, seinen Plan, den Plan, den er sich überlegt hat, denn er ist das Unternehmen – ist er nicht, aber er mag den Gedanken. Andersrum weniger, dass er nichts ist ohne das Unternehmen, ohne Elke und das Unternehmen, nein, verdammt, Schluss jetzt, die können ihn alle mal, kreuzweise nämlich; erstmal schön eine rauchen.

Vor allem, weil er ja intern früh darauf hingewiesen hat, dass so ein Plan auf Protest stoßen, ja, dass es haarig werden könnte, wenn sie den Plan durchziehen würden. Also die Schmidt-Rimbach wies drauf hin, wenn wir mal ehrlich sind, als Anmerkung zu seiner Präsentation, und er widersprach nicht, zumindest nicht öffentlich. Der Schmidt-Rimbach öffentlich widersprechen: keine gute Idee. Holt man sich nur eine blutige Nase bei ab. Führen und folgen, hat Elke außerdem immer gesagt, wer führt, muss auch folgen können. Oder findet er, hat sie ihn gefragt, dass eine gute Idee nur dann gut ist, wenn sie von ihm stammt?

Die verbittet er sich, solche Vorwürfe, murmelt Schulze, alle haltlos. Der Plan steht. Angriff nach vorne, das wird schon, mit seinem Lieblingsanzug, dem hellblauen Hemd und der gestreiften Krawatte, die ihm schonmal aus der Patsche geholfen hat. Nichts hält ihn jetzt noch auf, das merkt er, seine Transformation, alles beginnt, an ihm abzuprallen, er wird hart, streng, unerbittlich. Pah, Schnüffler, Aktivisten, Lügenpresse – was glauben die denn, wer sie sind, die werden sehen, mit wem sie es zu tun haben. Alles aufklären wird er, lückenlos, keine weiteren Fragen mehr, keine Vorwürfe, keine Unsicherheit, Angriff nach vorne.

„Herr Schulze?“, fragt der Chauffeur. Wir sind da, soll das wohl heißen, „weiß ich selber“, zischt Schulze, „ihr könnt mich alle mal kreuzweise!“ Er steigt aus, energisch diesmal und sein Lächeln modellierend, denn der Grat zwischen Siegesgewissheit und Überheblichkeit ist schmal, das weiß er mittlerweile, also grinst er unmerklich, während er an den Fotografen vorbeigeht, nur wenige können das überhaupt erkennen, dass er grinst – nur solche, die ihn kennen, an den Lachfältchen um seine Augen, für die anderen, die ihn nicht kennen, stiften sie Vertrauen, das weiß er, dass ihm die Lachfältchen dienlich sind, im Gegensatz zum Rest des Gesichts.

Steht schon alles bereit, geht gleich los, bleibt kaum Zeit, um Luft zu holen, aber egal, was stört das Schulze, diesen abgebrühten Hund, der ist hart, an dem prallt alles ab. Doch da, in diesem Moment, als er vor die Mikros tritt, unter Blitzgewitter, und die Schmidt-Rimbach spürt, ihren Atem, wie sie hinter ihm steht, und er wieder an seine Wange denken muss, die mit der Hand drauf – verdammt, ist der Abdruck noch zu sehen? –, und als er schon zu reden beginnt, da ist ihm, als erspüre er den Tropfen wieder in seiner Unterhose – oder sind es gar zwei? – und mit dem Tropfen kehrt plötzlich die Erinnerung an den Traum zurück – war es nur ein Traum? –, wie er oben steht auf dem Geländer der Salztorbrücke, nackt, im Rücken fahren die Autos vorbei, „vorbei“, sagt eine Frauenstimme, und er fällt, und während er durch die Luft saust, da fühlt er sich leicht – bis es ihn reißt und er im Bett hochschreckt, statt im Donaukanal.

„Sehr geehrte Damen und Herren“, hat Schulze längst begonnen, doch seitdem nichts mehr, man schaut schon, während er noch kämpft mit dem Traumgefühl, das jetzt wieder Bauchgefühl wird. „Ich habe einen Fehler gemacht.“ Ja, das ist es, was er sagen muss, sagen müsste, er sieht die Worte vor sich, zum Greifen nah sind sie, die Worte. „Ich habe einen Fehler gemacht“, sagt er, nein – aber warum zum Teufel sagt er es denn nicht endlich, wenn er die Worte doch schon vor sich sieht?

„Mit Verlaub“, sagt er stattdessen, geradeaus in die Kameras schauend, die Menschen direkt ansprechend, aufrecht, „unser Plan steht.“